„So also ist nun das Leben,
Wenn alles glatt abläuft nach Plan,
Schmerzarme Geburt, Krippe, Schule
Dann Lehre mit Moped und „Zahn“Was muß ich noch schaffen, noch kaufen?
Was fehlt noch zum Glück und zum Spaß?
Ist denn schon alles gelaufen?
Oder fehlt da noch was?Und Fernsehen und Fußball und Schlager
Und Streit mit der Frau wegen Geld
Und Fahrprüfung, Auto und Pudel
Und seh’n das man immer mithält.Was muß ich noch schaffen, noch kaufen?
Was fehlt noch zum Glück und zum Spaß?
Ist denn schon alles gelaufen?
Oder fehlt da noch was?Und später die Rente genießen
Gerhard Schöne
Hauptsache Gesundheit und Geld
An weiteres will ich nicht denken…
Ich weiß nicht, ob da noch was fehlt…
Ich weiß nicht, ob da noch was fehlt…“
Nach langer Zeit sitze ich nun wieder einmal in meinem Lieblingscafé/-pub/-bar und trinke einen Cappuccino aus einer der unikaten Retrotassen. In Gedanken wandere ich durch die letzten Zeiten und alle Ereignisse und Gefühle die da mit hinein gehören. Und dies ist eine Menge. Ich stehe nun vor der Situation mir auch einmal Gedanken darüber zu machen, was ich mit diesem Blog eigentlich will. Denn ein sehr geliebter und ehrlicher Mensch hat mir vor kurzem vorgeworfen, dass es doch eigentlich unverantwortlich sei mit einem Blog ein Versprechen zu geben, nämlich andere an meinem Leben teilhaben zu lassen, und dieses dann zu brechen in dem ich nicht mehr schreibe. Ich musste lachen, muss aber auch zugeben, dass sie damit einen Punkt getroffen hat. Für wen schreibe ich das eigentlich? Will ich es nutzen als eine Art selbst Therapie? Dann müsste ich es aber nicht veröffentlichen. Will ich anderen Menschen etwas zeigen? Dann müßte ich vielleicht Etwas konsequenter dran bleiben. Ich glaube, dass die Antwort irgendwo zwischen allem liegt. Es ist auf jeden Fall mein Weg um Erfahrungen zu verarbeiten und für mich deutlicher zu machen. Gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, dass vielleicht mein Weg auch darin liegen könnte andere Menschen an bestimmten Punkten zu erreichen. Und wenn ich am Ende meiner Reise wenigstens einen Menschen inspirieren, bestärken oder andersartig berühren konnte, kann ich dies als gelungene Absicht verbuchen.
Nur wird es immer schwieriger wirklich etwas zu schreiben umso mehr Dinge geschehen. Auch wenn jemand meinte, dass es doch nicht auf chronologische Richtigkeit ankommt, steckt doch in jedem Schritt etwas Neues und Aufregendes, welches wegzulassen, mir als Fehler erscheint. So werde ich dennoch versuchen die wirklich wichtigen Dinge nachzuholen und weiterhin festzuhalten. Und wenn mal länger nichts kommt, liegt es wahrscheinlich daran, dass mich diese Welt so sehr gefangen nimmt, dass ich erst im Nachhinein darüber schreiben kann

Die Straße ist hell erleuchtet vom Schein der Straßenlaternen. Menschen in langen Mänteln, Schal und Mütze laufen in beiden Richtungen an mir vorbei. Ich bin langsam. Müde. Zu wenig Schlaf gegen zu viel Kopfarbeit. Ich lausche der Stimme in meinem Kopf, die aus den Kopfhörern schallt. Das Publikum lacht. Ich höre nicht richtig zu. Ich bemerke die Abwesenheit eines vertrauten Gegenstandes in meiner Jackentasche. Ich weiß, dass er vor wenigen Augenblicken noch da war. Langsam laufe ich zurück und sehe ihn auf der Straße liegen, wo Schuhe achtlos vorüber gehen. Beim Hinunterbeugen rutschen mir die Kopfhörer vom Kopf. Die Stimme verstummt. Macht Platz für andere Töne. Gitarrenklänge, die mir nur all zu vertraut sind. Ich drehe mich um und sehe einen Freund am Straßenrand sitzen, die Gitarre auf dem Schoß, auf dem Lautsprecher sitzend, Augen geschlossen. Ich setze mich ein paar Meter entfernt und lausche den Klängen, die durch die kühle Luft fliegen; manche Menschen unberührt lassend, anderen ein Lächeln ins Gesicht malend und einigen direkt das Herz am Ursprung erwärmend. Ich spüre, wie der anstrengende Tag immer blasser wird und keine Kraft mehr hat. Jetzt bin ich hier. Und nur hier.
Auf der anderen Straßenseite setzt sich ein Obdachloser auf seinen zusammengerollten Schlafsack und schließt die Augen. Umgeben von Musik sind wir drei Ruhepunkte inmitten einer Menge, die nur noch nach Hause möchte. Kurz bevor die Töne verklingen, steht der heruntergekommen aussehende Mann auf, klemmt sich seinen Schlafsack unter den Arm, schultert seinen Rucksack und geht. Als er an dem jungen Mann mit seiner Gitarre vorbei kommt, greift er in seine Jackentasche, blickt auf seine Hand hinab und wirft ein paar Münzen in den geöffneten Gitarrenkasten. Tränen steigen mir in die Augen. Geöffnet vom Klang der Musik, dringt die Rührung direkt durch mich hindurch. Dieser Mann, wird heute Nacht in einem Hauseingang schlafen, sitzend auf einer Parkbank in einen dämmrigen Halbschlaf versinken oder die ganze Nacht durch die Straßen laufen, da ihn die Kälte nicht schlafen lässt. Er kann sich gerade einmal etwas zu essen und etwas zu trinken leisten. Und wofür gibt er sein Geld aus? Als ein Dankschön für ein paar Momente Ruhe und Glück. Vielleicht wissen nicht wir, was Leben wirklich bedeutet. Vielleicht sind die viel weiser, die außer Leben nichts haben.

Und wieder stehe ich in der Dublinschen Straßenbahn, der Luas, auf dem Weg nach Hause. Zum gefühlt hundertsten Mal. Es ist kaum vorstellbar, wie lange ich bereits hier bin. Monate voller Aufregung. Monatelang Neues. Monatelang tanzen. Monatelang Freude, weinen, lachen. Monate voller verrückter Menschen, verrücktem Ich. Verrückte Stadt.
Eine Freundin sagte vor Kurzem, dass sie das Gefühl hat, dass in Dublin die Zeit nicht vergeht. Ich habe eher das Gefühl, die Zeit fliegt nur so an mir vorbei.
Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass die Zeit hier unglaublich intensiv ist und ich jeden Moment spüre und ganz tief aufnehme. Es gibt keine leeren Stellen. Keine Pausen, die die Zeit in eine lange Weile verwandeln würden. Ich genieße dieses Gefühl des Gefüllt-Seins.
Ich beginne mich zu fragen, was mir in Deutschland, in der Vergangenheit, Langeweile beschert hat. Und hier spreche ich nicht von gesunden und beruhigenden Pausen. Ich spreche nicht davon auf dem Bett zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren und durch diese Löcher tief in den eigenen Gedanken zu versinken. Ich spreche von der alles auffressenden Langeweile, die einen im Inneren nicht beruhigt sondern aufregt, da man eigentlich etwas tun will, der Körper aber aus Blei besteht und sich nicht bewegen lässt. Diese depressiven Momente in denen man unzufrieden mit sich selbst ist, sich am liebsten mit etwas ablenken würde und das einfach nicht schafft. Oder man etwas anfangen möchte, aber einfach nicht weiß, was. Was hat es mir so schwer gemacht etwas aufregendes und spannendes zu entdecken? Was ist es, dass mich so abgestumpft werden ließ gegenüber dieser wachen und pulsierenden Welt da draußen? War es, dass die Umgebung mir keine Überraschungen mehr beschert hat? Dass ich meine Städte irgendwann so gut kannte, wie die berühmte Westentasche? Aber auch Dublin befindet sich bereits zu großen Teilen in meiner Westentasche wieder. Die Abläufe werden mir vertraut, nicht hinter jeder Ecke lauert etwas neues und ich sehe sogar manchmal bekannte Gesichter in der Menge. Und diese beginnende Entspanntheit gibt mir die Gelegenheit mich auf andere Dinge zu konzentrieren und nicht mehr darauf, dass ich auch ja den Weg nach Hause finde oder dass ich nicht über die nächste Möwe falle, da mein Blick mal wieder nach oben zu den wunderschönen Häusern oder auf den jungen Straßenmusikanten gerichtet ist.

Und trotz dieser beginnenden Unaufgeregtheit gegenüber meines Umfeldes, gibt es in meinem Leben keine Langeweile. Nicht einmal im Bezug auf meine Arbeit, obwohl ich dadurch meinem alten Leben insofern wieder begegne, dass ich einem bestimmten Tagesablauf zu folgen habe. Und auch wenn auf Arbeit nicht alles zum Besten steht und ich viele der Umstände kritisiere, schaffe ich es doch jeden Moment als Erfahrung zu sehen und das beste aus jeder Situation zu machen.
Der Morgen beginnt um sechs. Während ich auf meinem Bett sitze, meinen ersten Kaffee oder Tee trinke, versuche ich gleichzeitig mich darauf vorzubereiten, dass ich wach werden muss. Ich verlasse mein Haus eine Stunde später um mit vielen anderen Menschen zur Luas zu rennen, da jeder einen der Sitzplätze ergattern will. Denn im Stehen schläft es sich bekanntlich nicht so gut. 25 Minuten später laufe ich durch einen Wald von gläsernen und wichtigtuerischen Gebäuden und verschwinde im protzigsten davon. Der erste Gang geht Richtung Kaffeemaschine. Starker italienischer Kaffee. Und so ausgerüstet laufe ich durch die drei Sicherheitsschranken bis zu meinem Computer.

Den Tag über schreibe ich diverse E-Mails an mir unbekannte Menschen denen Gegenüber ich im Brustton der Überzeugung behaupte, ich wüsste, was ich tue. In Wahrheit sitze ich regelmäßig vor ihren Fragen und habe das Gefühl ich habe die Mail in einer falschen Sprache bekommen, da ich teilweise nicht einmal weiß, was die eigentlich von mir wollen. Bitte, wenn Ihr jemals wieder wegen eines technischen Problems irgendwo anrufen müsst oder eine E-Mail schreibt, bitte, bleibt ruhig, erklärt genau was das Problem ist und geht, um Himmels Willen, nicht davon aus, diese Menschen wüssten, was sie tun! Und habt immer im Hinterkopf, dass diese Menschen nicht der Ursprung eures Problems sind. Denn sie sind nur die armen, bemitleidenswerten Personen, die das ausbügeln müssen, was die Erfinder verzapft haben. Und, ganz wichtig: lest alles in einer E-Mail. Manchmal kommen Kunden zu mir zurück und fragen mich etwas für dessen Beantwortung ich quasi meine vorherige E-Mail noch einmal genauso abschicken könnte, da ich das alles schon einmal erklärt habe. Der Vater einer Kollegin arbeitet auch in diesem Bereich und hat ein Schild bei sich auf dem Schreibtisch mit der Aufschrift „Betreutes Denken“. Und manchmal habe ich das Gefühl, genauer kann man diese Arbeit nicht beschreiben. Aber dennoch genieße ich das Gefühl, einen Fall dauerhaft schließen zu können, Menschen zu helfen und Danksagungen zu bekommen; auch wenn dadurch manche Fälle noch einmal reaktiviert werde, was sich in der Gesamtstatistik nicht so gut macht. Außerdem wird es fast nie langweilig, da die Arbeit manchmal Recherchearbeit bedeutet, bei der Bob Andrews vor Neid erblassen würde.

Und das Beste sind wirklich die Menschen. Das Team ist klasse. Offen, freundlich, liebenswert, lustig und einfach entspannt. Auch die Umstände im Büro lassen es zu, dass öfter mal über andere Themen geredet werden kann, dass es auch manchmal etwas lauter wird und dass jeder seine Pausen nehmen kann, wie er möchte. Auch muss nicht gefragt werden, ob man mal zur Toilette darf, wie ich es schon von anderen gehört habe, die in diesem Bereich arbeiten. Wunderbar sind Momente, wenn 25 Menschen in einem Raum gemeinsam über einen Insiderwitz lachen oder man, beim nach Hause gehen, einen Abschiedsgruß in sieben verschiedenen Sprachen zugeworfen bekommt. Hinzu kommen diverse interne Regeln, für deren Einhaltung sich das Team ganz eigene Methoden überlegt hat. Zum Beispiel muss man immer seinen Computer sperren, wenn man seinen Platz verlässt, da nicht einmal den eigenen Kollegen vertraut werden darf. Wenn jemand dies allerdings vergisst, findet jeder im Team eine E-Mail in seinem Posteingang wieder, welche zu irgendwelchen obskuren Unternehmungen einläd oder interessante Details über die jeweilige Person verrät. Mir ist das einmal passiert und in der Mittagspause bekam ich diverse Fragen, ob man denn zu meinem Yogamorgen am Samstag auch Freunde mitbringen darf. Eine andere lud dadurch das ganze Team zu Pizza bei sich Zuhause ein und eine andere teilte allen mit, dass sie bald heiraten werde. Das diese E-Mails ein fake sind wird den meisten spätestens dann klar, wenn die nächste Nachricht folgt in der sich auf interessanteste Art und Weise aus der Sache herausgeredet wird. Und wenn alle gleichzeitig anfangen vor sich hin zu grinsen oder zu lachen, weiß man, dass gerade wieder einer, beim Verlassen des Raumes, vergessen hat, seinen Computer zu sperren. So ist die Arbeitsathmosphäre wirklich gut und könnte kaum entspannter sein.


Das wirkliche Problem sind eher die Umstände in der Firma. Zu wenig Menschen für zu viel Arbeit. Zu wenig Geld für zu viele Überstunden. Zu wenig Mitarbeiter mit viel Erfahrung für zu viele Neuankömmlinge. Ich habe das Gefühl, dass die Firma aus allen Nähten fällt seit dem ich dort angefangen habe. Erfahrene Mitarbeiter verlassen den Arbeitsplatz für bessere Bedingungen oder auch ohne eine weitere Perspektive zu haben. Ich habe Menschen gesehen, die sich unter Tränen vom Team verabschiedet haben, die am liebsten bleiben würde, die keine Idee haben, wo es in Zukunft hingehen soll – und trotzdem gehen sie, da sie es einfach nicht mehr aushalten. Das sollte kein Arbeitsplatz zu verschulden haben.
Das Problem ist das Denken der Ersetzbarkeit. In den Augen der „Großen“ sind alle Mitarbeiter vor ihren Bildschirmen austauschbar. Einfach zwei Wochen Training und wir sind wieder wo wir waren. Dabei wird vergessen, dass dieser Job – wie kaum ein Job – nicht einem einfachen Muster folgt. Es gibt komplexe Abläufe, Updates und Komplikationen mit denen noch nicht einmal alle erfahrenen Mitarbeiter etwas anfangen können. Somit verlangsamt sich die Arbeit erheblich, wenn neue Kollegen eingearbeitet werden müssen und einige Zeit benötigen um ein Teil der Routine zu werden. Hinzu kommt, dass die Firma diese Leute bezahlen muss für Zeit im Training und für sehr langsames Erledigen ihrer Arbeit. Auch das kann kein Gewinn sein. Wichtiger wäre, die existierienden und erfahrenen Mitarbeiter irgendwie zu halten. Bessere Bezahlung, weniger Überstunden. Auf der anderen Seite sind weniger Überstunden nur möglich, wenn man mehr Mitarbeiter einstellt. Doch wie soll dann eine bessere Bezahlung möglich sein? Und das schlimmste an der Situation ist, dass die Firma auch nur einen befristeten Vertrag mit einer noch größeren Firma hat, die die Anforderungen vorgibt und wenn wir diese nicht erfüllen, dann sucht sie sich in zwei Jahren eben einen anderen Vertragspartner. Hier geht es nicht mehr darum, sich gegenseitig für eine gute Arbeit und die Zufriedenheit der Mitarbeiter zusammenzuttun. Hier geht es nur noch darum der beste auf dem Markt zu sein. Viele Kunden zu haben und zu halten. Und wer das nicht schafft ist raus. Die „großen“ Bosse sitzen im siebten Stock und sehen, dass wir ihre Vorgaben nicht schaffen. Die Gründe sind egal, was die Arbeit unten im ersten Stock eigentlich bedeutet, interessiert nicht. „Die scheinen unsere Vorgaben nicht ernst zu nehmen. Ziehen wir die Zügel doch noch etwas straffer. Und wenn sie es immernoch nicht schaffen, müssen sie Geld an uns bezahlen, da wir ja nichts dafür können, dass sie ihre Arbeit nicht richtig erledigen!“. Geldgeil und Schizophren. Und das traurige ist, dass es zu funktionieren scheint. Die Unternehmen wachsen, verdienen noch mehr Geld und finden immer jemanden, der die Drecksarbeit für sie erledigt. Global, menschlich und nachhaltig gesehen wird dieses Handeln der Menschheit sicher irgendwann auf die viel zu teuren Schuhe fallen. Für eine Veränderung wäre es ihr fast zu wünschen.

Ich selbst habe auf diversen Reisen festgestellt, wie sehr ich die Anwesenheit von genug Geld zu schätzen weiß. Auch hier in Dublin. Es ist ein fester Bestandteil unserer Zivilisation und dementsprechend mit fast allem verbunden. Und das wäre auch in Ordnung, wenn sich insgesamt ein anderer Umgang und eine andere Bedeutsamkeit herausarbeiten würde. Wo bleibt das eigentlich Leben, wenn wir nur noch die nächste Gehaltsabrechnung erwarten oder nur noch unsere Rechnungen im Kopf haben, da das Geld so ungerecht verteilt ist, dass viele Leben nur noch aus Bangen und Hoffen bestehen.
Aber was ist das eigentliche Leben? Was bedeutet Leben? Zu leben? Was ist es, was wir alle hier tun? Manchmal würde ich die Antwort auf diese Fragen gerne einfach und schnell aus meinen tiefen Sorgenfalten ziehen. Doch natürlich ist mir bewusst, dass es hierfür keine Antwort gibt und erst recht keine richtige. Was würde man auf die Frage nach dem Leben antworten? Liebe, Zufriedenheit, Glück, Reisen, Geld, Familie, Freude, Freunde, Arbeit, Haus, Auto, Gesundheit? 42?

Natürlich haben wir alle unterschiedliche Wörter in unseren Köpfen. Natürlich haben wir auch für gleiche Antworten unterschiedliche Begründungen. Liebe für den einen bedeutet vielleicht geliebt zu werden. Für den andern zu lieben. Manch einer wünscht sich vielleicht ein Haus, weil er darin Sicherheit sieht. Jemand anderes zeigt dieses Haus voller Stolz seinem Vater, um ihm den Traum zu erfüllen, den dieser schon immer für sein Kind hatte. Und ist der Grund wirklich wichtig, wenn sowieso jeder einen anderen hat? Ich weiß nur, dass ich meine Antwort noch immer nicht gefunden habe. Was aber auch nicht mehr schlimm ist. Denn Leben bedeutet auch mal die Augen zu schließen und sich vom Rhythmus bewegen zu lassen. Ich will nur meinen inneren Weg finden, damit ich den äußeren nicht immer sehen muss um ihn gehen zu können. Ich spüre, dass ich diese deutsche Manie des Arbeiten des Geldes willen, viel schaffen um des Stolzes Willen, Gut sein um des Status Willen, langsam von mir abfällt. Meine Mitbewohnerin hat zu mir gesagt: „After one year you are going to be detoxed!“ Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht wird der ganze emotional und psychologisch festgefahrene Müll nach einer Weile verschwinden und ich bin entgiftet. Und zur Zeit habe ich dieses Gefühl. Es dreht sich nicht mehr um die Erfüllung der Dinge, die ich angeblich muss oder soll. Und dieses Land ist wie gemacht um mich darin zu unterstützen. Wenn ich mal fünf oder zehn Minuten zu spät komme, kümmert das keinen, solange ich meine Arbeit mache. Die erste Frage, die ich von Fremden gestellt bekomme ist nicht „Was machst du eigentlich?“ sondern „Wie geht es dir hier?“. Und ich komme nicht herum zu sagen: „Mir geht es wirklich gut!“.


Ich habe gelernt wieder neugierig zu sein. Ich bin fasziniert von der Welt um mich herum. Ich gehe wandern, malen, singen, tanzen. Ich lasse meinen Bauch entscheiden. Und auch wenn mein Kopf gerne mal gegen ihn anschreit, dass ich doch morgen wieder früh raus muss, dann beruhige ich ihn mit dem Argument, dass ich dann einfach morgen eine Stunde später zur Arbeit komme und dafür eine Stunde länger bleibe. Ich gehe allein zum Aktzeichnen und warte nicht darauf, dass Menschen auf mich zukommen. Ich spreche Musiker auf der Straße an und sage ihnen, dass mich ihre Musik zu Tränen gerührt hat ohne mich darum zu kümmern, was sie oder die Menschen um uns herum von meiner Herzöffnung halten. Und ich mache die Erfahrung, dass die meisten an diesem Punkt mit mir auf einer Welle schwimmen und mich nicht als seltsam abstempeln, wie ich, mal wieder zu voreilig, beurteilt habe. Ich gehe in Pubs um die Rugbyspiele im Fernsehen zu sehen und mit Fremden auf Siege anzustoßen, Niederlagen zu betrinken und Umarmungen der Barkeeper abzuholen, die mir ihr Mitleid dafür ausdrücken möchten, dass Deutschland verloren hat. Ich lasse mich von Fremden zur Swingmusik durch den Raum drehen und singe mit zwanzig anderen Ukulelespielern jeden Dienstag bis tief in die Nacht.



Und ich gehe wieder wandern. Diesmal mit meiner französischen Freundin. In die Wicklower Mountains; etwa eine Stunde Busfahrt von Dublin entfernt. Da sie etwas außerhalb wohnt und der Bus durch ihren Wohnort fährt, verabreden wir uns für Samstag im Bus. Doch, die irische Gelassenheit und Unorganisiertheit zeigt sich auch im Bussystem. Ich bekomme zwar noch einen Sitzplatz in einem der zwei Reisebusse, aber schon etwa ab der Hälfte der Strecke zeigt sich, dass die Iren nicht ganz so auf Tatsachen und Regeln pochen, wie ich es von manchen Deutschen gewohnt bin. Der Bus ist restlos voll und normalerweise ist es, aus Sicherheitsgründen, nicht gestattet mehr Menschen als Sitzplätze mitzunehmen. Doch den Busfahrer interessiert das nicht wirklich. Ab der fünften Station ist auch der Mittelgang gefüllt mit Reisenden, die sich lieber auf den Boden setzen, als zu versuchen in dem wild schaukelnden Bus im Stehen Halt zu finden. Es ist ein Leichtes die eingefleischten Iren von den Touristen zu unterscheiden. Denn die Iren können in der Situation nichts Sonderbares erkennen und sehen nicht weiter beunruhigt aus, während die Touristen und ich schon eine Vollbremsung mit Folgen vor unserem geistigen Auge sehen.

Aber, wie immer, wenn es mehr unausgesprochene Regeln als feste Gesetze gibt, funktioniert alles trotzdem reibungslos und manchmal noch besser, als an Orten, wo man vor lauter Regeln gar keine Luft mehr bekommt. So auch hier. Wir kommen alle an unserem Ziel an. Auch wenn ich meiner Freundin nach einer dreiviertel Stunde eine Nachricht schicken muss, dass ich glaube, dass mein Bus nicht durch ihr Dorf fährt, ich aber hoffe, dass es der andere tut und wir uns nicht im Bus sondern vor Ort treffen müssen. Denn die Busfahrer haben spontan ihre Reiseroute ein wenig verändert um sie der Nachfrage anzupassen.

In Glendalough (gesprochen: Glendelog) angekommen, schultern wir unsere Rucksäcke und laufen durch den Wald den versprochenen Naturschönheiten entgegen.




Ich genieße jeden noch so anstrengenden Schritt bergauf. Endlich wieder unterwegs. Endlich wieder einmal raus aus Lärm, Schmutz und Stress. Es ist ein wunderbarer Tag voller Zweisamkeit, Einsamkeit, Reden, Schweigen, Staunen und Atmen. Ich bekomme einen Einblick in mein Leben ab April, wenn ich meinen Rucksack für längere Zeit schultern und laufen werde. Ich denke daran, wie sehr ich vermisse, in dieser vollen und schnellen Zeit nur mit mir zu sein. Wieder einmal runter fahren. Einfach sein. Nur können, nichts müssen. Weite und Leere. Und manchmal neue Menschen, kurze Blicke, Höhepunkte fremder Leben.

Gleichzeitig empfinde ich die Anwesenheit meiner Freundin ebenfalls als Geschenk und es ist ein Segen nach Wochen voller erster Begegnungen und dauerhaftem Sich-selbst-erklärens, mit einem Freund unterwegs zu sein, dem ich mehr erzählen kann, als die Eckpfeiler meines Lebens. Der tiefe Austausch tut mir gut und ich spüre erneut, wie sehr mir manchmal all die weit entfernten und geliebten Menschen fehlen, bei denen ich einfach sein kann und nicht mehr erklären muss, wer ich bin und wo ich mich nicht mehr beweisen und erklären muss. Und ich weiß diesen Schatz noch mehr zu schätzen.


Nach einem fünfstündigen Auf und Ab sind wir auf der Suche nach unserem vorab reservierten Hostel. Auf dem Weg wird mein Französisch ein wenig aufgefrischt. Und gerade als ich das Wort ‚Schafe‘ lerne, angeregt durch die grünen Wiesen um uns herum, taucht das gesuchte Haus vor uns auf. Es stellt sich heraus, dass unsere Unterkunft Hostel, Hotel, Bar, Restaurant und Pub in einem ist und wahrscheinlich der einzige Pub im ganzen Dorf, da wir wahrlich zu tun haben, uns mit unseren Rucksäcken durch die Menge zur Rezeption durchzukämpfen.

Nach einer Dusche und einem guten Abendbrot jubeln wir mit den Leuten aus dem Ort den Rugbyspielern im Fernsehn zu und singen zur anschließenden Livemusik aus voller Kehle mit. Wir sind die Groupies, die ihren Star noch nie vorher gesehen haben. Scheinen der zweiköpfigen Band jedoch einen Gefallen zu tun, da auch andere durch unser singen, tanzen und dirigieren angesteckt werden und die Stimmung vibriert. Jedoch müssen wir uns nach der Hälfte des Auftrittes bereits zurückziehen, da uns der Tag doch etwas geschafft hat. Und nach einem kurzen Gespräch mit dem Sänger, der uns vom Gehen abhalten möchte, fallen wir todmüde und unendlich zufrieden in unsere Betten.

So versuche ich meine Tage mit all dem zu füllen, zu dem mein Herz laut ‚Ja‘ ruft und wobei meine Seele in ihrer Hängematte baumeln kann. Und auch, wenn ich noch nicht weiß, was Leben wirklich für mich bedeutet oder worauf ich hinsteuere, weiß ich nur, dass ich genau hier und jetzt das Beste aus allem machen möchte. Jeder Tag ist anders. Und ich möchte es gerade auch nicht anders haben. Noch immer habe ich diese strenge Trennung von Arbeit und dem ‚ganzen Rest‘ in meinem Kopf. Doch erkenne ich immer öfter, dass dies ebenfalls nur etwas von mir gemachtes ist. Ich kann jeden Tag nach Hause gehen und mindestens eine Sache nennen, was den vergangenen Tag wertvoll macht. Ich lerne neue Dinge, ich habe viel Spaß mit den Kollegen auf Arbeit und den Menschen, die mich auch im ‚ganzen Rest‘ umgeben. Ich versuche nicht nur die negativen Dinge zu sehen, auch wenn sie bei dieser Arbeit einem förmlich ins Gesicht springen und sich festkrallen. Doch auch, wenn ich viele positive Dinge sehe, werde ich bald Schlüsse aus meinen Beobachtungen ziehen müssen. Denn was bringt mir der ganze Optimismus, wenn ich Abends kaum noch Kraft habe etwas anderes zu tun, als todmüde in mein Bett zu klettern und in tiefen Schlaf zu fallen, gefüllt mit Träumen in denen ich zu spät im Büro erscheine, mein gesamtes Englisch vergessen habe oder wichtige interne Informationen an die falschen Leute herausgebe?

Was mich wirklich durch die Tage bringt, sind die Menschen, die mich hier bereits begleiten und die Menschen, mit denen ich auch über weitere Strecken hinweg immer verbunden bin. Und ich überlege, was mich wirklich glücklich macht. Ist es das Geld oder kann ich für ein bisschen gute Musik darauf verzichten? Und wenn ich eine Antwort darauf habe, was kann ich daraus für Handlungen ziehen? Denn, nur ich allein bin ‚meines Glückes Schmied‘ und nur ich allein kann die Berge erklimmen auf denen ich frei atmen kann und glücklich bin mit dem, was ich sehe. Ich halte mein Herz offen und lausche auf meinen Bauch.



